Der erste Mord des NSU - noch immer ungeklärte Fragen zum Opfer (2024)

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Von: Hanning Voigts

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Der erste Mord des NSU - noch immer ungeklärte Fragen zum Opfer (1)

Vor 20 Jahren wurde Enver Simsek in Nürnberg niedergeschossen. Der Blumenhändler aus dem hessischen Schlüchtern war das erste Opfer des „Nationalsozialistischen Untergrunds“.

Enver Simsek muss glücklich gewesen sein. In einer Nacht im Sommer 1999 saß er auf dem Balkon seines Hauses in Salur und aß Kirschen. Das Dorf liegt 150 Kilometer nördlich der türkischen Stadt Antalya. Hier war der 1961 geborene Simsek aufgewachsen, hierhin fuhr er als Erwachsener in Urlaub. Seine Tochter Semiya, von der die kleine Episode überliefert ist, fragte ihren Vater, ob er nicht schlafen könne. Simsek antwortete, er wolle etwas hören. Und dann lauschten beide den Glocken der Schafe, die wie in jedem Jahr von den Bergweiden ins Tal zurückkehrten. „Ich spürte, wie glücklich mein Vater in diesem Moment war“, berichtet Semiya Simsek.

NSU-Morde: Acht Schüsse aus zwei Pistolen treffen Enver Simsek

Nur ein Jahr später wurde das Leben von Enver Simsek mit brutaler Gewalt beendet. Am 9. September 2000, einem Samstag, fährt der 38-Jährige früh morgens von Hessen nach Nürnberg, um seinen Blumenstand in der Liegnitzer Straße mit frischen Sträußen zu beliefern. Simsek betreibt seit Mitte der 1990er Jahre einen Blumengroßhandel mit Ladengeschäft im hessischen Schlüchtern, zudem unterhält er mobile Verkaufsstände.

Weil sein Mitarbeiter verreist ist, stellt Simsek sich selbst hinter den Klapptisch. Gegen 15.15 Uhr ruft ein Kunde die Polizei, weil er den Blumenhändler nicht finden kann. Die Beamten öffnen Simseks Lieferwagen und finden den 38-Jährigen schwer atmend auf der Ladefläche. Fünf Kugeln stecken in seinem Körper, vier davon in seinem Kopf. Mit acht Schüssen aus zwei Pistolen, eine davon eine Ceska 83, wurde er offenbar von zwei Tätern „regelrecht hingerichtet“, wie die Polizei später festhält. Simsek stirbt zwei Tage später im Krankenhaus.

Für seine Frau Adile Simsek und seine Kinder Semiya und Abdulkerim, 14 und 13 Jahre alt, bricht die Welt zusammen. In ihrem 2013 erschienenen Buch „Schmerzliche Heimat“ hat Semiya Simsek geschildert, wie der Tod ihres Vaters ihre Familie in eine existenzielle Krise stürzte.

NSU-Mord an Enver Simsek: Die Polizei ermittelt gegen das Opfer

Und es ist nicht nur der Verlust des Vaters und Mannes: Kurz nach dem Mord richten die Ermittlungen der Polizei sich gegen das Opfer und seine Familie. Es wird mit großem Aufwand untersucht, ob Enver Simsek in kriminelle Machenschaften verstrickt war, ob Angehörige mit der Tat zu tun haben könnten. Immer wieder wird Adile Simsek verhört, die Wohnung der Familie durchsucht. „Können Sie erahnen, wie es sich für meine Mutter angefühlt hat, plötzlich selbst ins Visier der Ermittlungen genommen zu werden?“, fragt Semiya Simsek. Bis der Mord aufgeklärt wird, muss die Familie elf Jahre mit ihrem Schmerz und der Ungewissheit leben – und mit Verdächtigungen und Gerüchten.

Dabei gibt es Hinweise auf einen anderen Hintergrund des Mordes. Ein Zeuge hatte zwei Männer an Simseks Lieferwagen gesehen, einen mit Radlerhose und einen mit Baseballkappe. Günther Beckstein (CSU), bayrischer Innenminister, notiert handschriftlich auf einen Zeitungsbericht: „Bitte mir genau berichten: Ist ausländerfeindlicher Hintergrund denkbar?“. Doch die Ermittler haben sich bereits festgelegt: Krimineller oder familiärer Hintergrund, vielleicht Drogen. Selbst als mit der Ceska 83 weitere Morde an Migranten begangen werden und aus dem Mord an Simsek eine Serie mit letztlich zehn Morden im ganzen Bundesgebiet wird, zieht die Polizei nie ernsthaft ein rassistisches Motiv in Betracht.

Die wahren Täter organisieren sich im Nationalsozialistischen Untergrund

Erst als die wahren Täter, die Terroristen vom „Nationalsozialistischen Untergrund“, sich im November 2011 durch ihren Suizid und ein Bekennervideo selbst enttarnen, erschüttern das Ausmaß der rassistischen Mordserie und das Ausmaß des Staatsversagens, für das die Abkürzung NSU seitdem steht, die deutsche Gesellschaft.

Der erste Mord des NSU - noch immer ungeklärte Fragen zum Opfer (2)

Deutschland, so berichtet es Semiya Simsek, sei für ihren Vater nie seine Heimat, wohl aber ein Sehnsuchtsort gewesen. Ein Land, wo man sich ein besseres Leben aufbauen konnte. Als junger Mann war Simsek 1985 nach Deutschland gekommen, wo seine Frau Adile mit ihrem Vater bereits lebte. Erst wohnte das junge Paar, das bald zwei Kinder bekam, in Friedberg, dann in Flieden. Enver Simsek arbeitete am Fließband, später bei einem Autozulieferer als Schweißer. Ihre Eltern, schreibt Semiya Simsek, hätten immer bescheiden gelebt, um irgendwann in die Türkei zurückkehren und dort ein Haus bauen zu können. Anfang der 1990er begann Simsek, am Wochenende Blumen zu verkaufen. Mit harter Arbeit und Ehrgeiz gelang es ihm, einen florierenden Blumengroßhandel aufzubauen.

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Als Arbeitgeber schuf Simsek vor allem für türkische Verwandte und Bekannte eine Perspektive, auch sonst half er laut seiner Tochter in Schlüchtern und seinem Heimatdorf Salur oft mit Geld aus. Semiya Simsek beschreibt ihn als liebevollen Vater, der seine Kinder zur Selbstständigkeit erzog und in tiefer Liebe mit seiner Frau verbunden war.

„Nationalsozialistischer Untergrund“

Enver Simsek gilt als erstes Opfer des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrundes. Der Blumenhändler wurde am 9. September 2000 erschossen. Die Täter wurden erst mehr als zehn Jahre später gefunden: Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe. In der Zwischenzeit tötete die neonazistische, terroristische Gruppe mindestens neun weitere Menschen.

Die Namen ihrer Opfer sind: Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kilic, Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubasik und Halit Yozgat. Außerdem erschossen die Terroristen die Polizistin Michele Kiesewetter. Das NSU-Trio verübte zudem mehrere Mordversuche, Sprengstoffanschläge und Raubüberfälle. Bis heute ist umstritten, wie viele Menschen sie dabei unterstützten und welche Rolle V-Personen der Verfassungsschutzämter der Bundesländer spielten.

Die Polizei und viele Medien hatten einen rechtsextremen Hintergrund der Verbrechen zunächst ausgeschlossen und die Täter im Umfeld der Opfer vermutet. Bekannt wurde der NSU erst als Mundlos und Böhnhardt sich 2011 das Leben nahmen. Beate Zschäpe wurde 2018 als Mittäterin der Morde und Sprengstoffanschläge zu lebenslanger Haft verurteilt.

Der Bundestag und acht Landtage setzten Untersuchungsausschüsse ein, um das Versagen der Sicherheitsbehörden aufzuklären. Die Ergebnisse werden unterschiedlich bewertet, viele Fragen blieben ungeklärt. FR/epd

Zweieinhalb Jahre vor seinem Tod begab Enver Simsek sich mit seiner Frau Adile auf die traditionelle Pilgerreise nach Mekka und wandte sich mehr der Religion zu. Kurz vor seinem Tod, so beschreibt es seine Tochter, habe er fest vorgehabt, endlich weniger zu arbeiten, mehr Zeit für seine Familie zu haben. Und dann, irgendwann, habe er in die Türkei zurückgehen wollen. Dieser Traum wurde nie erfüllt.

Warum gerade Enver Simsek zum ersten Opfer der NSU-Mordserie wurde, ist bis heute nicht geklärt. Er liegt in Salur begraben. Man könne sein Grab von dem Balkon aus sehen, auf dem er im Sommer 1999 den Glocken der Schafe gelauscht habe, schreibt Semiya Simsek. „So ist mein Vater in seine Heimat zurückgekehrt.“

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