NSU-Opfer: Semiya Simseks Trauer um ihren ermordeten Vater - WELT (2024)

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Dieses Buch kritisch zu kommentieren verbietet sich. Es wäre so passend wie ein Zwischenruf bei einer Trauerrede. Denn darum handelt es sich. Um eine Trauerrede von Semiya Simsek auf den geliebten Vater Enver, der am 9. September 2000 von NSU-Terroristen ermordet wurde, und um das anschließende zwölfjährige Desaster irrlichternder Ermittlungen, das aus heutiger Sicht nur als große Staatspanne bezeichnet werden kann. Um eine Wehklage über die Verdächtigungen, denen die Familie des Opfers ausgesetzt war, weil die Polizei Envers Simsek lange als „halben Täter“ unter Verdacht hatte. Aber das moralisch argumentierende Buch hat noch eine weitere Dimension. Und die ist immens politisch und provoziert eine Antwort.

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Semiya Simsek erzählt in den ersten beiden Kapiteln des Buchs gemeinsam mit dem Journalisten Peter Schwarz von ihrer Kindheit und der Migrationsgeschichte ihrer Eltern. Ihr Vater Enver Simsek war Sohn einer Schäferfamilie aus dem Taurusgebirge in Anatolien. Er hatte mit 17 Jahren die spätere Mutter von Semiya geheiratet, die mit ihren Eltern nach Deutschland ging, während er noch den Militärdienst in der Türkei ableistete.

1984 kam er dann durch die Möglichkeit der Familienzusammenführung mit 24 Jahren zu den Eltern der Ehefrau nach Hessen, arbeitete in einer Fabrik, die Kinder Semiya und Kerim wurden zu der Zeit geboren. Enver war fleißig und wollte etwas aus seinem Leben machen. Neben seiner Arbeit verkaufte er Blumen, erst als fliegender Händler, dann machte er daraus ein richtiges Geschäft, wurde Blumenhändler, schaffte sich einen Lieferwagen an, mietete eine Halle, besorgte sich die Ware auf dem Großmarkt in Holland.

Ein Leben in Deutschland

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Enver band Blumensträuße und wurde eine Größe im Blumenhandel in seiner Stadt. Er betrieb sein Geschäft wie viele türkische Gewerbetreibende, die Dinge wie Sozialversicherung, Steuererklärung eher als lässlich betrachten und alles in bar abwickeln. Es gab, so schildert es Semiya, neben den Erfolgen auch Gebietsstreitigkeiten und politische Auseinandersetzungen mit einem kurdischstämmigen Konkurrenten, denn der Vater, so deutet sie an, war wohl bei der MHP oder der Milli Görüs, und der Konkurrent wurde zur PKK gezählt.

Der Vater hat auch Geld verspielt und wurde wie viele andere Moscheegänger von einer Milli-Görüs- und AKP-nahen religiösen Stiftung um viele Ersparnisse gebracht. Dann unternahmen die Eltern auf Wunsch der Mutter eine Pilgerreise nach Mekka und danach, Enver Simsek war inzwischen 38 Jahre alt und hatte zwei halbwüchsige Kinder, wollte er es beruflich etwas ruhiger angehen lassen.

Enver plante wohl, die Firma zu verkaufen, und bereitete sich langsam auf die Rückkehr in die Türkei vor. Dort hatte die Familie sich inzwischen ein Haus gebaut. Alles Dinge, die nur deshalb erwähnenswert sind, weil sie durch den Meuchelmord auf einmal als Indizien und Verdachtsmomente gegen ihn auftauchten. Die Tochter beschreibt das Leben ihres Vaters als „eine deutsche Karriere“. Er bewegte sich in den Moscheevereinen und türkischen Teehäusern mit ihren sozialen und wirtschaftlichen Vernetzungen. Er war Moschee-Vereins-Vorsitzender.

Ein Mord und die Folgen

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Semiya Simsek erzählt in großer Liebe von ihrem Vater, einer unbeschwerten Kindheit, in der es nach ihrer Darstellung keinerlei Einschränkungen für sie als Mädchen gab, von wunderbaren Ferien im Dorf der Eltern in der Türkei und dem großen Glück, in einer türkischen Familie zu leben. Von Eltern, die alles dafür taten, dass die Kinder eine gute Ausbildung bekommen. Dazu gehörte auch, dass Semiya und ihr Bruder Kerim in ein türkisch-islamisches Internat gingen. Ich hätte gern erfahren warum, denn es war in dieser Zeit für türkische Familien schon ungewöhnlich, die Kinder außer Haus in eine bekanntermaßen religiös-politische Institution zu geben. Dort war sie auch am 9. September 2000, als das Unglück über ihre Familie hereinbrach.

Enver Simsek war in Nürnberg in seinem Blumenwagen von neun Kugeln getroffen worden. Er starb in der folgenden Nacht. Die Mörder - so wissen wir heute – waren mutmaßlich die Rechtsterroristen Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe. Sie ermordeten nicht nur den wehrlosen Mann, sondern verhöhnten ihr Opfer auch noch, indem sie ihn fotografierten, um daraus später ein Video mit dem rosaroten Panther zu machen.

Die Polizei konnte sich keinen Reim auf die Tat machen. Das Opfer war nicht ausgeraubt worden, es gab keine Spuren außer den Kugeln aus einer tschechischen Pistole. Man fragte sich: War es vielleicht Rache eines Konkurrenten? Ging es um Spielschulden? War es ein Auftragsmord im Drogenmilieu? Gab es politische Motive oder eine Schutzgelderpressung, gar einen psychopathischen Serienkiller? Weil man keinen Anhaltspunkt hatte, ermittelte man im Umfeld des Opfers. Und nur da. Alle Spuren führten ins Nichts.

Good cop, bad cop

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Dann geschahen in den folgenden Jahren weitere neun Morde, die alle mit derselben Waffe ausgeführt wurden. Die Opfer waren bis auf einen Mann griechischer Herkunft und eine deutsche Polizistin alles türkische Männer, die ein Gewerbe ausübten. Das Unwort von den „Döner-Morden“ kam auf, weil eines der Opfer einen Imbiss betrieb. Es gab unterschiedliche Ermittlungsgruppen und Sonderkommissionen bei der Polizei und dem Bundeskriminalamt.

Bis zu 160 Ermittler beschäftigten sich mit den Fällen. Man stellte immer wieder das Leben der Simseks und der anderen Familien auf den Kopf, hörte sie ab, spielte „good cop, bad cop“ mit ihnen. Das türkische Milieu erschien den Fahndern undurchsichtig. Kriminelle Trittbrettfahrer wollten sich mit falschen Informationen bei der Polizei auf Kosten der Opfer Vorteile verschaffen. Und dann stellte sich heraus, dass die Polizei, das Bundeskriminalamt, der Verfassungsschutz auf dem rechten Auge blind gewesen waren. Elf lange Jahre lang.

Am 11. November 2011 wurde klar, dass Enver Simsek sterben musste, weil er Türke war. Und die Täter rechtsradikale, rassistische Terroristen. Zwei der Mörder hatten sich erschossen, weil die Polizei ihnen wegen eines Bankraubs dicht auf den Fersen war. Beate Zschäpe, die Dritte im NSU-Trio, sprengte die gemeinsame Wohnung in die Luft, stellte sich der Polizei und schwieg fortan.

Zwölf Jahre währende Tragödie

Für Semiya änderte sich damit wieder vieles. Ihr Vater und die anderen Opfer wurden rehabilitiert, die Verantwortlichen im Staat begannen, sich mit dem Ermittlungsdesaster auseinanderzusetzen. Aber auch da häufte sich wieder Panne auf Panne, wusste die rechte Hand nicht, was die Linke tat, schienen Verstrickungen von Tätern mit staatlichen Institutionen möglich. Zu den Ermittlungspannen kam Kompetenzgerangel, verschwanden Akten, und die Erklärungsnöte der Verantwortlichen wuchsen, je mehr davon bekannt wurde. Geklärt ist das bis heute alles nicht.

Semiya Simsek schildert dies nicht anklagend und macht deutlich, dass die Tragödie vor zwölf Jahren und die folgende Enttäuschung und Voreingenommenheit der Beamten nicht spurlos an ihr vorübergegangen sind. Wie auch.

Gemeinsam mit den anderen Opferfamilien begann sie sich zu wehren. Auf der zentralen Gedenkveranstaltung für die Opfer hielt sie eine bewegende Trauerrede, und sie wird in dem kommenden Prozess gegen Beate Zschäpe als Nebenklägerin auftreten. Trotzdem sieht sie Deutschland weiterhin als ihre, wenn auch schmerzliche, Heimat an.

Deutschlands 11. September

Die Anwälte der Autorin, die den voraussichtlich im Mai dieses Jahres beginnenden Prozess vorbereiten und sie beim Umgang mit den Medien beraten, schreiben im Nachwort, dass Semiya und ihr Bruder Kerim „nicht nur die Aufklärung der Morde“, sondern auch auf „die politisch-gesellschaftliche Dimension des Falles“ hinweisen wollen.

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Das tun sie mit ihrem Buch und die Anwälte, indem sie im Nachwort den kommenden NSU-Prozess „in seiner historischen, gesellschaftlichen und politischen Dimension“ schon vor Beginn zu einem der „bedeutendsten Prozesse der deutschen Nachkriegsgeschichte“ erklären. Vergleichbar für sie nur mit den Nürnberger Kriegsverbrecher-und den Stammheimer RAF-Prozessen. Und mit der Aussicht, dass mit diesem Prozess generell dem Rassismus und Rechtsextremismus in der deutschen Gesellschaft der Prozess gemacht werden soll, verändert sich auch der Blick auf dieses Buch. Es wird zum Plädoyer einer politischen Nebenklage.

Die Argumentation der Anwälte schließt nahtlos an die Erklärungen und Aktivitäten des Koordinierungsrats der Muslime (KRM), der Türkischen Gemeinde (TGD) und fast aller muslimischen Organisationen an. Die zehn Morde der NSU-Terroristen bezeichnet Aiman Mazyek, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime (ZMD), als „den 11. September Deutschlands“. Er greift damit eine Aussage des Generalbundesanwalts auf und deutet sie in seinem Sinne um. Er sagt bei allen Gelegenheiten, nachdem zehn Jahre über den Islamismus diskutiert wurde, muss jetzt damit Schluss sein. Ab jetzt, so sein Credo, diskutieren wir über Rassismus und die „Islamophobie“, wie die kritische Auseinandersetzung mit dem Islam auch gern genannt wird. Dazu hat der KRM ein Dossier über den NSU-Terror angefertigt, das heißt eine Presseerklärungen zum Thema zusammengestellt.

Die Blindheit der Islamverbände

In einem „offenen Brief an den deutschen Staat und die deutsche Öffentlichkeit“ (vom 23. November 2011) kommen darin 28 Islam- und Türkenverbände schnell vom Beileid für die Opfer zu der ihrer Meinung nach eigentlichen Ursache der Verbrechen. Nach Ansicht der Islamverbände liegt der „Nährboden“ der Verbrechen im „negativen Bild des Türken und des Islam im Allgemeinen“ bei „Großteilen der Bevölkerung“. Verursacht wesentlich durch die öffentlichen Debatten über den Islam und „gescheiterte“ Integration und „die Fokussierung auf Zwangsheirat, Kopftuchverbote oder Islamisierung Deutschlands sowie Verschärfung der Familienzusammenführung bei türkischen Staatsbürgern“. Das ist ein kühner, wenn nicht infamer Kurzschluss, lagen zum Beispiel doch die meisten Morde vor dieser Debatte und können schon deshalb keine Reaktion darauf sein.

Offen werden die politischen Ziele der Islam- und Türkenverbände unter das unschlagbare Thema „Bekämpfung des Rassismus“ subsumiert, werden Rassismus und Kritik der Politik am Islam in einen Topf geworfen. Über die moralische Betroffenheit soll Kritik am Islam und seiner Kultur wieder einmal tabuisiert und als rassistisch stigmatisiert werden. Darüber hinaus wird eine Kollektivschuld der deutschen Mehrheitsgesellschaft unterstellt.

Wenn das Thema nicht so bitterernst wäre, könnte man sagen, hier wird eine Tragödie politisch instrumentalisiert. Denn die Islamverbände und Türkenlobby haben es im letzten Jahrzehnt nicht geschafft, selbst eine Form zu finden, ehrlich über die Probleme der Migranten zu sprechen. Sie finden keine Haltung zu den seit 1995 über 200 sogenannten Ehrverbrechen in der muslimischen Gemeinschaft, außer dem Mantra, dass diese Morde nichts mit dem Islam zu tun hätten. Über dieses Drama gibt es von ihnen kein Dossier, keine Opferlisten, keine Forderung nach Mahnstätten, sondern nur Verdrängung, Verleugnung, Verdrehung.

NPD und Islamisten

Vielleicht weil es sich bei den Taten um eine interne Angelegenheit ihrer Gemeinschaft handelt? Eine Reflexion, ein Diskurs oder eine Analyse wird in dieser und anderen Fragen verweigert. Auch gibt es keine Aufrufe oder Abgrenzungen gegen Antisemitismus oder Rassismus gegen Deutsche in den Moscheen und der Gemeinschaft. Von diesen ideologischen Stammesführern möchte man sich nicht darüber belehren lassen, wie man gegen rechts und für eine offene Gesellschaft kämpft.

Die Kritik an der interessengeleiteten Politik der Islamverbände soll das Staatsversagen, das Desaster der Ermittlungsbehörden und auch den Rassismus in unserer Gesellschaft nicht verharmlosen. Denn es gibt ein Aufarbeitungsproblem jenseits der Aufklärung der Verbrechen. Wenn wir Rassismus und Nationalismus vor allem im Osten der Republik unter jungen Deutschen feststellen, reagieren die politisch Verantwortlichen meist hilflos.

Das Verbot von Organisationen wie der NPD wird als Allheilmittel dargestellt. Als Ursache wird auf die Wechselwirkung von Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und Fremdenfeindlichkeit als Erklärungsansatz abgehoben. Sprich, wir verbieten die NPD und geben den Männern Arbeit, und es gibt keine Nazis mehr. Das ähnelt dem Erklärungsansatz, bei dem für die Probleme bei Einwanderern hauptsächlich soziale Gründe verantwortlich sein sollen. Bildungsferne, patriarchalische Verhältnisse, Frauenunterdrückung haben danach ausschließlich soziale Gründe. Bewusst werden kulturelle Ursachen ausgeblendet. Das ist zu kurz gedacht. Wir müssen über die Ursachen von Rassismus offen reden, genauso wie wir den Islamismus analysieren müssen.

Sektierer gibt es überall

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Denn bei den radikalen Neonazis wie Salafisten sind ideologische, religiöse, kulturelle, ethnische Identitäten für ihre Weltsicht maßgebend. Diese Szenen setzen in unterschiedlicher Weise auf eine kollektive Gemeinschaft – hier Umma, da Volksgemeinschaft. Sie identifizieren sich über ihre Gruppenzugehörigkeit, fordern Gruppenrechte ein.

Wie es Sektierer in der muslimischen Gemeinschaft gibt, so gibt es in der rechten Szene Kameradschaften, in der eine von der Mehrheitsgesellschaft weitgehend unbeachtete Sozialisation stattfindet. Es sind demokratieferne, sich abgrenzende, andere ausgrenzende Milieus, die durch den öffentlichen Wertediskurs nicht erreicht werden. Faschistische und islamistische Gruppen ähneln sich in der Überhöhung und Absolutierung der eigenen Herkunft oder Weltanschauung, der Abgrenzung gegen Andersdenkende oder Ungläubige, dem Feindbild, der Durchsetzung der Ziele auch mit Gewalt, dem Prinzip Gehorsam und Unterwerfung.

Wir müssen uns aus ureigenstem Interesse mit totalitären Ideologien auseinandersetzen und viel dafür tun, die Jugend, ob türkischer oder deutscher Herkunft, für die Werte der Demokratie und Freiheit begeistern. Wenn wir nicht die Mitte der Gesellschaft stärken, werden wir schon bald nicht mehr eine Vielfalt, sondern einen „Kulturabbruch“ erleben, das heißt wir werden das Risiko eingehen, dass die Gesellschaft in Gruppen und Milieus mit egoistischen und zum Teil antagonistischen Zielen zerfällt.

Semiya Simsek führt uns vor Augen, was dieses Risiko für ihre Familie bedeutet hat. Sie ist inzwischen zu ihrem Mann in die Türkei gezogen und bewahrt das Haus ihres Vaters als Erinnerung. Er wäre sicher stolz auf sie, und unser Land kann es auch sein.

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